Seit nun gut zwei Jahren habe ich zu meiner, leider immer kleiner werdenden Familie, eine wundervolle polnische Familie dazubekommen. Oder sagen wir besser: eine oberschlesische Familie. Neben diesem liebevollen familiären „Zugewinn“ habe ich auch eine Reihe von neuen und ungewohnten Eigenheiten kennenlernen dürfen, die sich mir noch nicht ganz erschlossen haben. Bis jetzt! Denn ein Geburtstagsgeschenk meines Freundes, eine Reise in ein Schloss in Niederschlesien – und damit in die Nähe von Breslau – schärften meinen Blick auf diese Gewohnheiten. Ich muss sagen: Es hätte mir nichts Besseres passieren können.
Kurz nach der deutsch-polnischen Grenze bei Görlitz, nach der Abfahrt von der Autobahn-bahnten wir uns den Weg über einsame und bisweilen etwas holprige Straßen durch die polnischen Dörfer. Meter- bis kilometerweisel flaches und jetzt, im November, vor allem unwirtliches Land. Dann, die ersten kleinen Ansiedlungen mit mehr oder weniger gegliederten Backsteinfassaden. Die Putze mal mehr, mal weniger bunt. Meist eher weniger bunt und hin und wieder sogar außen völlig heruntergekommen.
Aber, oft zentral positioniert und immer sehr gut sichtbar: Die Hauseingänge, durch einen kleinen Holzvorbau oder sogar Portikus gut gekennzeichnet und mit oft weit offenstehenden Türen, über einige kleine Stufen nach oben zu erklimmen. So ärmlich die Fassaden auch wirken, man erkennt sofort: Man versucht das Beste aus dem rauszuholen, was man hat. Und was man hat, wird bis zum Geht-Nicht-Mehr verwendet. Es ist immer aufgeräumt, selbst wenn ein Teil des eigenen Hauses schon in Trümmern liegt, und der noch nicht verfallene Hausteil wird bewohnt. Nach und nach werden die wirklich dringenden architektonischen Partien ersetzt. Und das Wichtigste: Die Türe steht immer offen für Gäste!
Etwas aus der Zeit gefallen: Das klingt so herablassend und negativ. Aber ich meine es in einem sehr positiven Sinn. Ehrlich-ursprünglich, so kommt es mir hier vor. Kuriose, blaue Briefkästen am Wegesrand, bestehend aus schmalen Fächern, senkrecht positioniert, mit Vorhängeschlössern. Hier gilt das Postgeheimnis noch etwas.
Ältere Frauen mit Kopftüchern an völlig veralteten Bushaltestellen. Man sitzt beieinander und ratscht lautstark. Man hat sich noch etwas zu sagen. Dann wieder menschenleere Landstriche und dazwischen verlassene Industriekomplexe, dem Zahn der Zeit überlassen. Stichwort „Zeit“: Letztere scheint hier still zu stehen. Man besinnt sich auf das Ursprüngliche. Und das ist auch gut so. Es ist gerade so schick möglichst „nachhaltig“ zu leben. Weil wir unseres übermäßigen Konsums aktuell so überdrüssig sind und einfach alles möglich ist. Man ist digital übersättigt. Und hier? Hier meint man es wirklich so, weil man es gar nicht anders kennt. Konsum, Kapitalismus und Werbung sind noch etwas, worauf man stolz ist. Das kündigen auch die schon ebenfalls auf mehrere hundert Kilometer sichtbaren Reklameschilder aller Art-meist für Tankstellen wie die große Kette „Orlen“ – und auch die Beschriftungen an Häusern an. Man möchte allen Vorbeifahrenden kenntlich machen, dass hier entweder ein Restaurant, ein Hotel, eine Ferienwohnung, oder, wie erwähnt, eine Tankstelle zu finden sei. Und das nicht mit blinkenden „Neon-Reklamen“, sondern gerne mit Farbe und meterhohen bunten Buchstaben an der Fassade. Gefällt mir! Da weiß ich sofort woran ich bin, und kann mich schon Meter vorher entscheiden.
Zu dem Thema „meterweise“ komme ich gleich nochmal. Doch zunächst noch zum Aspekt „woran ich bin“: Auch das wird mir in Polen mit einer unglaublichen warmen Art vermittelt, so wie ich es auch schon von meiner schlesischen Familie kenne. Ich werde sofort aufgenommen, muss wahnsinnig viel essen-das kann man auch sehr gut in Polen- und man schenkt mir seine Zeit. Ist froh, dass man seine Stadt, oder auch sein Land, jemand Interessiertem zeigen kann. Man ist in diesen Zuwendungen an Neu-Familienmitglieder auch äußerst hartnäckig! Bewundernswerterweise kann man auch dreimal „Nein“ zu etwas sagen, es ist einem keiner ernsthaft böse.
Und nun zurück zu „meterweise“: Das habe ich in Polen auch in völlig neuen Dimensionen wahrgenommen. In großen Supermarktketten wie „Auchan“ habe ich das absolute Neuland in Sachen „Meter“ erlebt: Mehrere Regalmeter mit Butter und vor allem mit Wodka! Natürlich in den verschiedensten Geschmacksrichtungen. Es ist völlig klar, wie man sich hier bei Kräften hält!
Und dazu dann pyramidal aufgetürmte Kohlköpfe, falls Butter und Wodka noch nicht genügen.
Dieser Stolz auf die landeseigenen Produkte, der sich in diesen drapierten Kohlköpfen sowie fettigen und hochprozentigen Regalmetern äußert, stimmt mich auch nachdenklich. Von neumodischem Chi-Chi keine Spur.
Die Markthalle in Breslau aus dem Jahr 1908, eine imposante und interessante Konstruktion mit einem Betongratgewölbe hatte mich schon mit meterweise Blumenbouquets und -gestecken empfangen, doch „Auchan“ hat mich dann komplett überfahren.
Zum Glück hat die wirklich bemerkenswert langsame Kassiererin mir eine Verschnaufpause verschafft und mich beobachten lassen, dass das Thema „Plastiktüte“ sowie „Plastikverpackung“ hier noch keine allzu große Rolle spielt.
Hier dieser Gegensatz von den ursprünglichen Produkten einerseits und dem Verhaftet bleiben in dem einst so segensreichen, plastikträchtigen Kapitalismus. Ein ebenso krasser Gegensatz, wie die allmorgendliche und allabendliche Panflötenmusikuntermalung in unserem Schloss Klitschdorf, in dem der Chef de Cuisine wie ein Superstar gehandelt wird und dir auf allen schlosseigenen Reklameprintmedien entgegengrummelt. Ja, auch auf den ist man sehr stolz.
Wein von schlesischen Weingütern, den wir sehr gerne irgendwo als Mitbringsel gekauft hätten und der angeblich sehr gut sein soll, darf in Polen nicht in Läden verkauft werden. Dafür kann man aber im „Späti“ die Schmerzmittel an der Kasse frei und offen erwerben. Muss man nicht verstehen, ist aber so.
Und ebenso wichtig ist das jährliche Barbara-Fest, das an unserem Urlaubswochenende in dem angeblich auf Ruhe bedachten Hotel stattfindet. Diese Feier ist auch so eine schlesische Eigenart, die gepflegt wird. Und das lautstark am Wochenende! Apropos Wochenende: Laut Auskunft meines Freundes gibt es kein eigenes polnisches Wort für Wochenende!
Wenn das mal nicht alles über dieses Land aussagt!
Nun stehe ich hier mit meinem dicken Teddy-Mantel am Rynek in Breslau, mit einer dicken Schoko-Waffel auf der Hand und stelle mir vor, dass das alles hier nach dem Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche lag, dass die Breslauer es komplett wieder aufgebaut haben, nach der Vorlage alter Fotografien. Jetzt, vor Weihnachten, ist es hier ein Wuseln und Blinken und Getöse wie eigentlich überall in dieser Jahreszeit. Und doch ist es irgendwie anders, auch hier fühlt es sich etwas aus der Zeit gefallen an. Und ich muss sagen: Ich mag das, ich mag das Land, die Mentalität, das „tak, tak, tak“.
Ich verstehe meine heißgeliebte schlesische Schwiegermama nun so viel besser. Ich verstehe, warum sie einmal erworbene Dinge so lange pflegt und hortet, wie es nur geht. Warum sie lieber repariert, anstatt neu zu kaufen. Warum sie Gurken einmacht. Warum sie ihre schlesischen Traditionen pflegt. Warum Familie für sie das Größte und Wichtigste ist. Warum sie immer mehrmals beim Essen fragt, ob ich noch etwas will, obwohl ich schon dreimal Nein gesagt habe. Und warum sie dieses Land so liebt und vermisst, trotz aller Widrigkeiten. Ich kann sie, nach dieser Reise, verstehen, denn auch mag dieses Land jetzt sehr gerne.
Und vor allem mag ich meine neue oberschlesische Familie.
Bis bald, in Polen.